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S.roeber

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Abkehr von der europäischen Perspektive?
Nach wochenlanger Belagerung hat die türkische Polizei das Protestlager im Istanbuler Gezi-Park zerstört. Doch ein Ende des Konflikts ist nicht in Sicht. Die Situation gefährdet auch die EU-Beitrittsgespräche.

Es begann als Streit um ein Bauvorhaben in Istanbul, doch längst ist klar, dass die Demonstranten viel mehr stört als das geplante Einkaufszentrum im Gezi-Park. Längst ist aus den lokalen Kundgebungen ein landesweiter Protest gegen Premierminister Recep Tayyip Erdoğan geworden. Ende der Woche zeigte der Regierungschef erstmals Kompromissbereitschaft. Nach fast vierstündigen Gesprächen in Ankara mit Vertretern der Demonstranten stellte Erdoğan zunächst in Aussicht, das Volk über die Zukunft des Bauprojekts entscheiden zu lassen.

Es war nur ein scheinbares Einlenken, wie sich am Samstagabend zeigte: Mit Gewalt räumte die türkische Polizei das Protestlager im Gezi-Park. Der türkische Regierungschef hatte zuvor auf einer Kundgebung vor zehntausenden Anhängern in der Hauptstadt Ankara mit diesem Schritt gedroht, nachdem die Demonstranten nach den Gesprächen mit Erdoğan erklärt hatten, dass der Widerstand gegen Ungerechtigkeiten im Land fortgesetzt würde.

Türkei ist tief gespalten

Die Räumung des Gezi-Parks erfolgte überraschend. Türkei-Experten wie Udo Steinbach von der Humboldt-Viadrina School of Governance in Berlin, hatten Erdoğans Zugeständnis an die Demonstranten als Versuch gedeutet, die Situation zu entschärfen und die internationale Kritik abzumildern. Denn selbst bei einem Volksentscheid bezüglich des Bauvorhabens, so Steinbach im DW-Interview, habe Erdoğan letztendlich wenig zu befürchten: "Wenn der Ministerpräsident diese Angelegenheit am Ende einem Referendum der Istanbuler Bürgerschaft unterwirft, dann würde dies zu seinen Gunsten ausgehen - und das weiß er."

Die Türkei ist nach Steinbachs Einschätzung ein extrem gespaltenes Land. "Die Verwerfung zwischen denen, die in den vergangenen Wochen protestiert haben, und der Anhängerschaft des türkischen Ministerpräsidenten geht tief." Laut einer Umfrage des türkischen Sozialforschungsinstituts Andy-Ar unterstützen nur 24 Prozent der Befragten die Protestaktionen im Gezi-Park.

EU-Verhandlungen stocken

Die Frage, ob die Türkei eine Zukunft in der Europäischen Union haben kann, sollte nach Einschätzung Steinbachs wegen der Auseinandersetzungen nicht neu überdacht werden. Offiziell ist geplant, dass die seit Jahren - unter anderem wegen der Zypern-Problematik - stockenden Beitrittsgespräche zwischen der Türkei und der EU am 26. Juni wieder aufgenommen werden.

Einige konservative Europapolitiker fordern nun, dass die Verhandlungen nicht fortgesetzt werden. "Dies ist nicht der Moment, um sich zu lösen, sondern um sich noch stärker zu engagieren", sagte dagegen die EU-Außenbeauftragte Catherine Ashton in der vergangenen Woche.

Ähnlich äußert sich der Bundesvorsitzende der deutschen Grünen, Cem Özdemir, im Gespräch mit der Deutschen Welle. Der türkischstämmige Politiker wirft der deutschen Bundesregierung vor, ihre Einflussmöglichkeiten auf die türkische Regierung vernachlässigt zu haben: "Wir haben leider die Verbindung nach Ankara sträflich vernachlässigt, indem wir sehr frühzeitig - das gilt für Frau Merkel und ihre Regierung - klargemacht haben, dass es nicht um eine Mitgliedschaft geht, sondern um so etwas wie eine privilegierte Partnerschaft." Dann brauche man sich nicht zu wundern, wenn Ankara Anmerkungen aus Berlin und Brüssel nicht mehr so ernst nehme.

Zweifel am Beitrittswillen

Özdemir zweifelt auch daran, dass Erdoğan überhaupt noch eine EU-Mitgliedschaft der Türkei anstrebt. "Mein Eindruck ist, Herr Erdoğan wäre gar nicht so unglücklich darüber, wenn die aktuelle Koalition die Wahl in Berlin wieder gewinnt. Dann kann man das Spiel so weiterspielen. Die einen tun so, als ob sie der Türkei eine faire Chance geben und die anderen tun so - in dem Fall die Türkei - als ob sie wirklich rein wollten."

Mit dieser Einschätzung ist Özdemir nicht alleine. Rolf Mützenich, außenpolitischer Sprecher der SPD-Fraktion im Bundestag, teilt die Sorge, dass es in der türkischen Politik ein Abrücken vom EU-Beitritt gibt: "Ich würde das nicht auf eine Person beziehen. Aber wir sehen, dass es in der türkischen Gesellschaft Gruppen gibt, auch in Zusammenhang mit der Entwicklung in der arabischen Welt, aber insbesondere auch mit der wirtschaftlichen Entwicklung in der Türkei, die glauben, auch ohne Partner auszukommen oder möglicherweise mit neuen Partnern stärker zusammenarbeiten zu können."

Türkeiexperte Udo Steinbach sieht das Land jedoch weiterhin auf dem Weg Richtung Europa. Gegenteilige Äußerungen Erdoğans stuft er als Momentaufnahmen ein: "Jetzt ist er verärgert über die Reaktion der EU, über die Kritik aus dem Europäischen Parlament. Das ist eine emotionale Reaktion, die nicht gut überlegt ist", sagt Steinbach. "Nicht zuletzt der Staatspräsident selbst hat immer wieder klar gemacht, dass eine weitere Annäherung an die EU unabdingbare Voraussetzung dafür ist, dass sich die Türkei auch im Inneren weiter modernisiert und demokratisiert."

Autor: Marcus Lütticke

Redaktion: Friederike Wintgens



Mit freundlichen Grüßen
Sigurd A.Röber
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